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Anne, Christopher und ich sitzen noch gemütlich in Madurai bei einem Tässchen „Black coffee. No milk! No sugar!“. Wir plaudern über unsere geplante Weiterreise morgen nach Kerala. Dieses Mal nicht mit dem Bus, sondern mit der Bahn.
„Soll man ja nicht versäumen, in Indien Bahn zu fahren“, sage ich.
„Stimmt“, antwortet Christopher, „authentischer reisen geht nicht. Habt ihr schon ein Ticket?“
Anne und ich schütteln den Kopf.
„Oh!“ Der Kanadier blickt skeptisch. „Könnte knapp werden.“
„Warum denn?“
„Bahntickets sind oft Wochen vorher ausgebucht“, erklärt er. „Inder reisen halt gern.“
Er bietet an, uns zum Ticketkauf zu begleiten. Es soll nämlich nicht ganz einfach sein.

Links vor dem Bahnhofsgebäude zeigt er auf eine ziemliche Bruchbude, zu der eine provisorische Eisentreppe hochführt.
„Und da gibt’sTickets?“, fragt Anne skeptisch.
Christopher nickt und grinst.
Aha. Wir gehen hinauf und treten ein.

Es gibt zwei Schalter und einen separaten Raum, der eine eigene Tür hat.
„Was für eine Bretterbude!“, entfährt es mir, während ich mich umschaue. „Ein bisschen wie ein Baustellen-Häuschen.“
Dem einzigen Regal an der Wand entnimmt Christopher zwei Formulare, dann erklärt er uns, welche Felder wir wie ausfüllen müssen.
„Just do what they say“, empfiehlt er uns, dann verabschiedet sich zur Verabredung mit Freunden.
Formulare ausfüllen haben wir in Indien bereits gelernt, und so legen wir los. Name und Geburtsdatum, Pass- und Visa-Nummer. Alter, Sitzplatzwunsch, Zugnummer. Damit stellen wir uns an einem der Schalter an.

Der Mitarbeiter schaut kurz auf unseren Zettel und winkt uns in Richtung seines Nachbarn.
„Tourist?“, fragt ein Mann mit Schnäuzer und Segelohren.
Als wir nicken, erklärt er, dass wir erst nebenan in diesem abgetrennten Zimmer vorstellig werden sollen.
„Aber wir wollen nur eine Fahrkarte kaufen“, sagt Anne.
„No problem“, bestätigt er kopfschüttelnd.

Eine füllige Inderin im rot-gelben Sari empfängt uns im Separee. Ihre rot geschminkten Lippen glänzen unter dem Neonröhrenlicht.
Wir erklären wieder unser Reise-Vorhaben.
„Madurai – Varkala, two tickets, please“, sage ich.
Plötzlich flitzt etwas Schwarzes an mir vorbei und verschwindet im nächsten Loch.
Ich schreie laut auf.
Die Frau zuckt zusammen, der Mann mit dem Schnäuzer stürzt herein.
„What is happen?“, fragt er.
„A rat!!!“, schreie ich.
Die beiden atmen erleichtert auf.
„That only Simisi!“, sagt die Frau und lacht.
„Äh, what…?“
„Simisi, friend.“
Okay. Dass die Inder manchmal schräg drauf sind, habe ich schon gemerkt. Dass sie sogar Ratten im Büro zu Freunden machen, ist mir neu.
Anne lacht ebenfalls. Ich scheine also mit meiner Angst vor Nagern allein zu sein.
Ab jetzt werde ich die Dielenlöcher nicht mehr aus den Augen lassen!

Wir zeigen unsere Pässe, damit unsere Angaben mit dem Formular verglichen werden können.
Das dauert.
„Copy, copy!“, ordert die Frau. „Copy!“
„But why?“ Diese Frage habe ich mir in Indien schon oft gestellt.
„We need copy“, erklärt sie. „Then look for berths.“
Offenbar haben sie keinen Kopierer im Büro oder Simisi hat das Kabel angenagt.
Der Kollege erklärt uns den Weg zum Kopierbüro.

Das Schild mit der Aufschrift Xerox am Straßenrand führt uns schließlich in eine dunkle, zwielichtige Gasse.
Hinter einer schmalen Ladentheke steht in dem von Neonlicht erleuchteten Räumchen ein junges Mädchen. Sie fertigt für 8 Rupien Kopien von unseren Pässen und Visa an.
Damit gehen wir zurück zu Simisi und der Frau mit den roten Lippen.
Die schickt uns nun jedoch erst zum Schalter, Tickets kaufen.

„Häh?“ Anne blickt mich verständnislos an.
„Das heißt: But why?“, korrigiere ich sie milde. „Und diese Frage wird in Indien nicht beantwortet.“
„Ja, aber das hätten wir doch vorhin schon machen können“, sagt sie dessen ungeachtet.
„Nicht fragen, machen!“ Ich gehe hinüber an einen der Schalter und lege das Geld auf die Theke.

Mit den just erworbenen Fahrscheinen werden wir wieder im Simisi-Büro vorstellig.
Die Frau schaut in ihren Computer, hängt sich kurz ans Telefon – und druckt – endlich! – Reservierungen für zwei Schlafplätze aus.
Yeah! Ich schaue auf die Uhr. Hat gerade mal zwei Stunden gedauert.
„Sleeper class“, lese ich laut.
Der Schalterbeamte mit den Segelohren steht schon wieder neben uns, legt Daumen- und Zeigefinger zueinander an die Lippen. Dann schmatzt er drei Genuss-Küsse in die Luft: „Hmüp, hmüp, hmüp!“
Ich muss lachen und mache es nach. „Hmüp, hmüp, hmüp?“
Er nickt. „Sleeper-Class good!“
Simisi wechselt ungerührt das Loch; Anne verstaut die Karten sorgfältig im Rucksack.

Nach dieser komplizierten und aufwendigen Prozedur verstehen wir auch, warum nicht sehr viele Touristen per Bahn unterwegs sind. Das müssen sie auch nicht, denn Indiens 8.000 Züge auf den über 66.000 km langen Strecken sind sowieso immer voll. Etwa elf Millionen Menschen bewegen sich täglich durch ihr schönes großes Land. Die Tickets sind für jeden erschwinglich und die 1,6 Millionen Bahnangestellten tun sicher alles dafür – verzichten sogar auf Kopierer! -, ihren Job beim größten Arbeitgeber der Welt zu behalten.

Am nächsten Abend machen wir uns mit den schweren Rucksäcken auf den Weg zum Bahnhof.
Bereits auf dem Vorplatz ist richtig was los.
„Gibt’s hier ein Festival?“, fragt Anne.
Das sieht wahrlich fast aus wie bei der Fusion oder anderen Musik Open-Air-Veranstaltungen, die mehrere Tage dauern. Dort richten sich die jungen Besucher campingmäßig ein:
Auch auf diesem Bahnhof lungern Hunderte Menschen auf dem staubigen Fußboden herum. Manche liegen auf ihren Decken, andere lehnen an dicken Koffern, Taschen und überquellenden Säcken, gefüllt mit Lebensmitteln oder Stoffen. Die nächsten schwatzen laut miteinander, Kinder spielen Fangen, Hunde und Krähen streunen herum auf der Suche nach Eßbarem, Bettler bitten um eine Gabe. Abfälle liegen überall bunt verstreut. Dazu kommt das laute Getöse der Hauptstraße, wo Autos, Mopeds und Busse ihre Abgase und Dreck in die schwüle Luft mischen.
Die meisten Reisenden haben sich auf lange Wartezeiten eingerichtet.

Direkt vor dem Bahnhofseingang öffnet eine Frau eine ihrer vielen Tüten und verteilt auf abgerissenen Zeitungsblättern Samosas, Reis und gebackene Bananen an ihre Lieben.
An der Bahnhofsfront läuft ein Video. Ein Bollywood-Film?
Ich bleibe, wie so viele, stehen und gucke hoch.
„Wir müssen erst einmal herausfinden, auf welchem Bahnsteig unser Zug abfährt“, sagt Anne, gebeugt unter ihrem Rucksack.
Bei unserem gestrigen Ticketkauf wurde uns erklärt, dass unsere Namen mit Hunderten Mitreisenden dieses Zuges auf irgendwelchen Monitoren erscheinen. Auf welchem Gleis der Zug abfährt, konnten uns die zwei aus dem Simisi-Büro nicht sagen.
Im Bahnhofgebäude sieht es ähnlich aus wie draußen, nur dass die Luft hier noch stickiger ist. Und das, obwohl die Ventilatoren überall auf vollen Touren laufen.
Ich stelle mich an der Information an.
„Plattform four“, raunt der Mann am Schalter durch die Öffnung in der schmierigen Scheibe.

Wir schlängeln uns an den Schlafenden und Wartenden vorbei, suchen unser Gleis.
Dort angekommen, fragen wir drei Mal nach, ob auch andere hier auf den Zug nach Kerala warten.
Nachfragen ist in Indien eine wichtige Maßnahme: Oft erhält man sehr unterschiedliche, sogar gegensätzliche Informationen.
Aber in diesem Falle scheint alles zu stimmen. Ein junges, sehr hübsches Mädchen, bestätigt unsere Frage sehr entschieden. Auf Englisch bietet sie sogar an, den richtigen Waggon zu finden, nachdem sie kurz auf unsere Tickets geschaut hat.
„Sleeper Class!“, betone ich und werfe die drei schmatzenden Hmüp-Küsse in die Luft.
Sie hebt die Augenbrauen und wackelt mit dem Kopf.

Mit nur einer Stunde Verspätung fährt der Zug von Madurai nach Kochi mit Halt in Varkala ein: eine Vielzahl von im Schein der schummrigen Neonröhren auf dem Gleis türkisfarben leuchtenden Abteilen mit vergitterten Fenstern.
Die junge Frau deutet auf den richtigen Waggon, und wir steigen ein.

Schnell finden wir unsere Plätze: zwei übereinander liegende Pritschen in einem ansonst offenen Abteil. Die obere Liege wird mit großen Haken an schweren Eisenketten befestigt. Gegenüber dieselbe Konstruktion. Ich ziehe und zerre an der oberen Pritsche.
„Na, da wird wohl nix passieren“, sage ich und bereite unten mein Schlafquartier für heute Nacht vor, während Anne es sich über mir bequem macht.
In Minutenschnelle sind alle Plätze belegt.
Männer, Frauen und Kinder packen ihre Bündel auf die Pritschen, verstauen laut lamentierend ihre Koffer und Taschen unter den Sitzen.
Zu uns dringt ein strenger Geruch nach Urin.
„Sind wir etwa direkt neben der Toilette?“, fragt Anne.
Wir schauen beide in Richtung der zwei Gänge, und ich begebe mich auf Erkundungsgang.
„Zum Klo musst du noch an mindestens fünf offenen Abteilen vorbei“, erkläre ich ihr wenig später.
„Wahrer Geruch kennt eben keine Grenzen“, meint sie.

Dann rauscht der Zug auch schon los. Durch die offenen Gitter an den Fenstern weht frische Luft durch die Gänge.
Es ist weit nach Mitternacht, und allmählich wird es ruhig um uns herum.
Alle versuchen, eine Position zu finden, mit der es sich auf diesen harten Pritschen schlafen lässt. Wat wells de maache? (Artikel 7 des Kölschen Grundgesetzes: Füge dich in dein Schicksal)
Mir gegenüber legen sich zwei Frauen so, dass sie gemeinsam auf einer Liege Platz finden und sich ein kleiner Junge sogar noch zwischen sie kuscheln kann. Er verschwindet zwischen den zwei Saris der Frauen. Ein Mann, wahrscheinlich der Vater, macht es sich derweil auf der oberen Pritsche mit dem älteren Sohn bequem.
Auf den Liegen im Gang wird gefurzt, gehustet und geschnarcht.
Anne und ich müssen kichern, sie steckt den Kopf über den Rand ihrer Schlafkoje.
„Sleeperclass ist … ?!“, flüstere ich ihr zu.
Anne antwortet prompt mit dem dreifachen Schmatzer: „Hmüp, hmüp, hmüp!“
Erst Stunden später, als ich durch den eiskalten Fahrtwind der nicht richtig zu schließenden Fenster geweckt werde, erklärt sich mir diese Liebeserklärung: Neben uns im Gang stehen Menschen über Menschen. Sie haben keinen Sitz- und schon gar keinen Schlafplatz.
Mit unseren Plätzen haben wir wirklich Glück, denn der Zug ist inzwischen rappelvoll.
Er hält an vielen Stationen. Manche steigen aus, manche ein.
Indien pur.

Es wird Morgen.
Wir klappen unsere Pritschen hoch, so dass auch andere Reisende Platz finden. An Schlafen ist sowieso nicht mehr zu denken.
Ich bin durchgefroren. Anne hat Rückenschmerzen.

Die angekündigte Ankunftszeit ist weit überschritten.
Welche Station Varkala sein mag, erfahren wir nach vielem Nachfragen.
Mit drei Stunden Verspätung stolpern wir übermüdet auf den kleinen Bahnhof.

Ein Tuk-Tuk-Fahrer bringt uns an die Strandklippen.
Restaurants, Cafés und Verkaufsstände reihen sich aneinander.
Wir lassen unsere Rucksäcke am Coffee Temple fallen, einem gemütlichen Café. Der grandiose Blick übers Meer entlohnt uns für die Strapazen der Fahrt.
Eine junge blonde Deutsche mit Hipster-Haarknoten und lässigem Outfit fragt, welchen Capucchino wir denn wollen. Mit Zimt oder Vanille, mit Sojamilch vielleicht?
Größer könnte der Unterschied nicht sein. Das Touristen-Indien hat begonnen.

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